Hein, Christoph – Der fremde Freund

Was zieht man morgens zur Arbeit an, wenn man nicht weiß, ob man nachmittags zu einer Beerdigung geht
und keine Zeit hat, sich zwischendurch umzuziehen? Claudia entscheidet
sich für etwas Dunkelblaues, das auch für Schwarz gehalten werden könnte.
So kann sie in einem Outfit zur Arbeit und gegebenenfalls zu Henrys Beerdigung gehen. Als
sie jedoch von ihrer Kollegin gefragt wird, ob sie später zu einer Beerdigung geht, bleibt ihr keine andere Wahl, sie muss
zum Begräbnis gehen und diese für sie schwere Entscheidung wird ihr abgenommen.

Claudia, eine Ostberliner Ärztin, wohnt Anfang der achtziger Jahre in einem anonymen Plattenbau. Sie lernt ihren Nachbarn Henry
kennen und beginnt mit ihm eine Affäre. Sie kommen sich zwar körperlich, aber nicht seelisch näher.
Obwohl sie viel miteinander unternehmen, bleibt zwischen ihnen eine unsichtbare Barriere. Henry hat in Dresden eine getrennt von ihm lebende Frau
und Kinder und Claudia hat eine Scheidung hinter sich. Beide bleiben lieber auf Distanz, anstatt sich komplett auf den anderen einzulassen.

Sie besuchen Claudias Heimatdorf und fahren gemeinsam zu ihren Eltern. Alte Erinnerungen kommen hoch und
vordergründig scheint alles intakt zu sein. Eines Tages wird Claudia von Henry geohrfeigt, doch auch
dieser Ausraster wird verdrängt und nicht näher thematisiert. Schließlich kommt Claudias Schwester mit Claudias Ex-Mann
zusammen und Claudia wird wütend, obwohl sie laut eigener Aussage in Drachenblut gebadet hat und somit
seelisch unverletzbar ist. Wenig später aber verbreitet sich im Plattenbau eine schlimme Nachricht: Henry ist tot.

Die Sprache dieser Novelle ist von medizinischer Präzision. Einfach, schnörkellos und kalt.
Ob jemand eine Tür öffnet oder psychisch gedemütigt wird, die Sprache bleibt gleich. Durch diese sprachliche Einförmigkeit wirken die kleinen Grausamkeiten noch furchtbarer. Die Entfremdung
der Hauptfiguren von ihren Mitmenschen wird meisterhaft beschrieben. Die handelnden Personen sind unfähig
miteinander zu sprechen und sind selbst in Gesellschaft einsam. Dieses über 35 Jahre alte, zunächst
nur in der DDR erschienene, Buch ist erstaunlich aktuell. Die behandelten Themen (Einsamkeit, Entfremdung, Gefühllosigkeit) sind zeitlos und in jedem Gesellschaftssystem relevant.

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